Texte

Lothar Romain:
Katalog Saarländisches Künstlerhaus
2003

Das innere Äußere der Steine

Steine sind für Susanne Specht nie solche des Anstoßes, des Hindernisses, die es beiseite zu räumen oder aus dem Feld zu tragen gilt. Und Steine erscheinen bei ihr auch nie als Monumente des scheinbar Ewigen, als uneinnehmbare Festungen des Massiven, das mit Härte und Sprödigkeit allen Zugriffen zu trotzen versucht. Mögen die Steine vorwiegend aus Granit sein und Härte ausstrahlen, mögen sie noch so schwarz und bedrohlich auf dem Boden lasten, sie erweisen sich in den Arbeiten von Susanne Specht als verletzliche bzw. verletzte, sind gleichsam pflegebedürftig und erweichen sichtlich unter der künstlerischen Behandlung.
Den letzteren Begriff habe ich absichtlich gewählt; denn das Formen der Bildhauerin ist eher das einer liebevollen Behandlung, nicht der harte, mächtige Zugriff des Skulpteurs, der im Sinne Michelangelos die neue Form aus dem Stein befreit, indem er alles in ihrem Sinne Überflüssige wegmeißelt. Formen bedeutet für Susanne Specht zunächst und vor allem, Vorgaben zu akzeptieren, den Stein gleichsam als ein Individuum zu begreifen, dessen halbfertige Züge es zu vervollständigen, zu kennzeichnen und zu charakterisieren gilt. Das geschieht z.B. bei der Skulpturengruppe der "Feldsteine", verstreute Brocken, Findlinge nicht im geologischen, sondern im künstlerischen Sinne; denn Susanne Specht hat sie gesucht, besser noch: ausgesucht und dann aufgehoben und fort getragen. Nicht purer Zufall also wie beim objét trouvé, sondern gezielte Auswahl nach Form und Möglichkeit für die akzentuierende, die pflegliche Bearbeitung.

Die Erdbewegungen haben die Steine an die Erdoberfläche getragen, Erosion hat die Oberfläche der Eklogiten, so der Namen des metamorphen Gesteins, bearbeitet, während andere Gewalten für Risse sorgten, die wiederum zur Abspaltung von Steinschichten führten. Das alles ist schon da und wird von der Künstlerin aufgenommen, um sich dem Wesen Stein zu nähern; denn nur mit Wesen, also dem Lebendigen, der Seele der Natur zugehörig, lässt sich beschreiben, was Susanne Specht bei ihrer Arbeit schließlich freilegen will. Sie vertieft vorhandene Mulden oder meißelt sich vorsichtig, Verletzungen vermeidend in den Stein hinein, um sein Inneres zu entdecken. "Fern Zeit Sehen", "Innenbilder" oder "Wasserfenster" heißen bezeichnenderweise die Titel solcher Arbeiten und zielen auf die Intention des künstlerischen Tuns. Mit Blicken und auch mit den tastenden Händen bekommt man Zutritt zum Inneren des Steins. Seine Massivität erweist sich als relative. Ist man erst ein Stück weit ins Innere vorgedrungen, erscheint der Stein in einem neuen Licht, als Gebilde mit einem eigenen Innenleben, das vorsichtig geöffnet die Verletzlichkeit des Steines offenbart.


Susanne Specht meißelt zwar behutsam, aber zugleich glättet sie zusätzlich durch Schleifen und Polieren die zugefügten Wunden. Das ist allerdings nicht nur therapeutisch gemeint, sondern vor allem die Fortsetzung der Spannungen, die sie sichtbar machen will, der Spannung zwischen innen und außen, zwischen roh und glatt, zwischen positiver und negativer Form, zwischen Bruchstück und Gestalt. Beim Schleifen gibt der Stein ebenso Substanz ab wie Zeit. So wird der natürliche Erosionsprozess gleichsam beschleunigt und zugleich im Formsinn gesteuert. Faszinierend ist dabei die Wandlungsfähigkeit des Materials, das in der Bearbeitung eine dunklere Farbe annimmt, an Sprödigkeit verliert und statt dessen eine komplexe Struktur offenbart, ja wenn man genau hinschaut, mit den eingeschlossenen Granaten im wörtlichen Sinne innere Schätze preisgibt.
Was für die Gruppe der Feldsteine beschrieben, ist nicht spezifisch für diese eine, sondern Teil des künstlerischen Konzeptes, das trotz unterschiedlicher Voraussetzungen und Entstehungsweisen der Arbeiten doch immer wieder durchschlägt. Ob bei den "Innenklängen" oder der "Arche", ob bei den unterschiedlichen Torskulpturen oder auch bei der großen Außenarbeit "Fluss-Stationen", immer sind es behutsame Bearbeitungen, den Vorgaben folgend und sie als Potenzial begreifend. Am Ochsenkopf im Fichtelgebirge findet sie eine Reihe von Bohrkernen, die wie Versteinerungen von Geschossen daliegen. Der Bohrvorgang hat Spuren hinterlassen, mit der Zeit haben sie Patina angesetzt. Indem sie Mulden ausmeißelt oder längliche Schnitte setzt, öffnet sie auch hier das Innere des Steins, ohne die Vorgabe durch die industrielle Vorbearbeitung zu zerstören. Es bleibt der Eindruck des Massiven, ja auch Gefährlichen, aber zugleich auch des Verletzlichen, nicht schwärende Wunden, sondern Rinnen wie Sammelbecken, Formen des Abweisens und Aufnehmens. In einer anderen Werkgruppe hat sie Rundstücke bis zur Hälfte des Durchmessers abgetragen und nur ein Stück Rundung in der Mitte oder jeweils am Anfang und Ende wie Aufbauten stehen lassen: "Arche" heißt der bezeichnende Titel dieser Steinstücke, die wie archaische Schiffsformen erscheinen. Ihre leicht gewellten Deckflächen sind sorgsam poliert, so dass der schwarze Granit das Licht des Umraums teilweise aufsaugt, aber auch in leiser Bewegung reflektiert und in Schwingung hält.
Auch andere Arbeiten aus großen, schwarzen Granitblöcken bezeugen das durchgängige künstlerische Konzept, die Bruchformen der Steinblöcke bzw. ihre industrielle Vorbearbeitung als Formvorgabe zu nutzen und zu sublimieren anstatt radikal zu verändern - "Perpetuum", "Rollstein", "Rock-Cut", "Intermundien". Selbst großen, sperrigen Blöcken lässt die Künstlerin ihre behutsame, material- und formpflegende Behandlung zuteil werden. Eine der industriellen Vorbearbeitungen solcher Steinblöcke dient mittels Bohrungen der Gewinnung massiver Steinzylinder. Zurück bleiben dabei durchlöcherte Rohlinge, in denen die Bohrkanäle nach Nutzen, nicht nach ästhetischen Überlegungen geschaffen wurden. Der Stein ist auf diese Weise buchstäblich entkernt und seiner Massivität beraubt worden. Die industriell gefertigten, glatten Bohrkanäle machen die Verletzung seiner Integrität überdeutlich. Man glaubt dieses Wegfräsen noch im Nachhinein als einen schmerzlichen Vorgang zu spüren. Der künstlerische Eingriff ist beinahe minimalistisch und verändert doch grundlegend die Situation. Susanne Specht hat in langwieriger Schleifarbeit die scharfen Außenkanten der Bohrlöcher abgerundet, wie weich gemacht, so dass sie nun sanft ins Innere ziehen bzw. nach außen hin entlassen. Die schroffen Grenzen sind aufgehoben, der Stein wird zumindest partiell Teil des Umraumes, den er besetzt und den er zugleich in sich hineinzieht. Die Übergänge werden an diesen Stirnflächen fließend als handele es sich um organische, nicht um kristalline Masse.
Und doch: durchlöchert, entkernt, bis an die Grenze der Zerstörung ausgebeutet, bleibt der Steinkörper dennoch als Block erhalten. Zwei Stadien seines Seins werden so zusammengefasst, das Massiv und die Offenbarung eines Inneren. Die Erfahrung: auch Stein hat nicht Bestand, wenn man ihm zu Leibe rückt, selbst mit eigentlich eher sanften, weichen Mitteln wie Schleifen und Polieren. Stein, auch wenn er Archaisches in sich trägt, ist nicht ewig und dauernd gegenüber der wachsenden und sterbenden Natur. Er ist Teil des gesamten Naturkreislaufes, auch wenn er als Fragment zunächst ausgesondert und die Zeit der Transformation bei ihm bis zur Zeitlosigkeit zerdehnt erscheint.
Als Teil der lebendigen, nur scheinbar stillstehenden Natur sind auch die große Stufen- und Sitzskulptur "Silentium" für die Bundesgartenschau 2001 in Potsdam, sowie die ein Jahr zuvor abgeschlossene dreiteilige Arbeit "Fluss-Stationen" im Berliner Tiergartendreieck zu verstehen: als Ort der Kontemplation will der Sitzstein aus Juramarmor auf einer Lichtung der Bundesgartenschauanlage so auch in Gebrauch genommen sein. Die rohe Außenschale des Steinblocks korrespondiert mit seiner polierten, stufigen Innenform und wieder ist es die dialektische Spannung zwischen trutzigem Außen und lichtenem Innen, zwischen Offenheit und Schutz, auch zwischen Gesetztem und Gewachsenem, die den Charakter dieser Skulptur prägt. Über die dreiteilige Arbeit "Fluss-Station" hat Susanne Specht selbst einen kurzen Text geschrieben, der die Arbeit in ihrer Intention beschreibt. Wasser und Stein sind für uns seit mythischen Zeiten schon immer so eng miteinander verbunden, dass wir diese Einheit in zahllosen steinernen Brunnen immer wieder neu beschworen haben. In den drei Stationen dieses Skulpturenensembles erscheint das Element des Wassers wieder in den fließenden Wellenformen von "Quelle" und "Wasserstein" bis hin zu der bewegten Horizontlinie im "Wassertor". Und nicht nur Wasser scheint hier von der Quelle aus fort zufließen und den Betrachter zu den zwei anderen Skulpturenorten zu geleiten, sondern der Stein selbst sich in dieser Bewegung noch einmal zu gebären: Wasserfluss und Steinfluss sind eines geworden, streben mit dem "Wassertor" den gemeinsamen Ort der Einheit an, wo das unbewusst Schöpferische mit dem bewussten Schöpferischen, dem Buch- und Torzeichen zusammentrifft.
Für die Romantiker war Natur als Ganze beseelt, auch wenn das Erlebnis dieser Einheit nur noch zu erahnen und einzig in der Poesie noch Wirklichkeit war. Das Reich der Minerale, Gesteine gehörte dazu, und wenn von ihm die Rede war, dann nicht von granitenen, ewigen Massiven, sondern von derem inneren Leben, den Adern aus Metallen z.B. und ihren verschlungenen Spuren durch den Fels, von Bergwerken als Sinnbilder und Ausdruck für den Abstieg in die eigene Seele und deren labyrinthisches Wesen und von dem mühsamen, aber gleichzeitig immer beglückenderen Eindringen in das Wesen des Seins. Heinrich von Ofterdingen macht bei Novalis diese Erfahrung und lernt, wie das Sehen, Aufspüren und sich Vorarbeiten ins Innere der Erde einen Teil des Weges zu sich selbst bedeutet und zu jener ersehnten Einheit zwischen Natur und Geist, die in der Poesie zu erreichen sei.
Die Romantik hat das als einen Prozess der Transformation begriffen: Stein nicht als Widerpart des Lebens, sondern als Teil des Werdens und Vergehens und der Wiedergeburt. Ruinen sind die Mütter ihrer blühenden Kinder, heißt es programmatisch bei Novalis. Damit ist einerseits auf die Vergänglichkeit auch des aus Steinen Geschaffenen, ja des Steinernen selbst hingewiesen, denn nur im Zerfall wird der Stoff für neues Leben freigegeben. Und andererseits wird das unbesiegbare Leben beschworen, das - so hat es der späte Nachfahre der Romantik, Joseph Beuys, formuliert - erst durch die Todeszone hindurch muss, um in neuer Kraft zu erblühen. In ihrem prozesshaften Denken ebenso wie in der poetischen Überwindung des Subjekt-Objekt-Realismus standen die frühen Romantiker am Anfang der Moderne, die aus vielfältigen Quellen sich speist, aber in ihrem romantischen Strang in ebenso vielfältiger Weise zu einem hinstrebt, nämlich zur Aufhebung der starren Gegensätze von Subjekt und Objekt und zur Transformation des Seins in und durch die Kunst. Das hat nichts mit dem heute üblichen Gebrauch des Wortes romantisch gemeinsam, ist nicht gefühlig oder gar befindlich, sondern von höchster Klarheit in der Formulierung der eigenen, existenziellen Qualität des Poetischen. Die künstlerische Arbeit von Susanne Specht ist unverwechselbar eingebunden in die skizzierte Tradition, ohne damit traditionell zu sein. Für Susanne Specht muss Stein nicht erst zu einer ihm fremden Form erlöst werden, die dann Dauerhaftigkeit verspricht, sondern er ist Teil eines Lebensprozesses, dem die Kunst nachspürt, den sie sichtbar machen will in seiner Substanz. Wir mögen diesen Prozess nie als Ganzes erfahren, sondern nur in Fragmenten, als welche die Bruchblöcke und Fundstücke gesehen werden. Das Fragmentarische bleibt erhalten und wird doch so transformiert, dass es als Teil eines größeren Prozesses erscheint. Der künstlerische Eingriff lässt beispielhaft sichtbar werden, wie Gegensätze wenn nicht sich aufheben, so doch zueinander durchlässig werden, wie im behutsamen Formen und Erschließen eine Vorstellung von Zeit erlebbar wird als Erscheinung von Dauer und Zerfall, von Härte und Erweichung, von massiv und offen.
Das verbindet die Arbeit von Susanne Specht mit dem Beginn der Moderne in der Frühromantik - nicht die Wiederkehr der idealistischen Philosophie, wohl aber die Formulierung des Prozesshaften in allem, auch da, wo wie beim Stein auf den ersten Blick alles auf Dauer und Bestand gegründet zu sein scheint. Die Kunst macht den Prozess sichtbar - nicht Steine des Anstoßes also, sondern solche des Anstoßens im Sinne neuen Sehens und neuer Erfahrungen über Steine wie auch über uns selbst.


Prof. Lothar Romain