Texte

Birgit Möckel:
Text für den Katalog UmOrdnungen
2013

Keine Ordnung ohne Folgen - Handlung als Impuls

UmOrdnungen: Der Titel dieses aktuellen Überblicks zum Werk von Susanne Specht ist Tatsache, Programm und darüber hinaus ein Wortspiel, das nicht zuletzt auch als Handlungsimpuls zu verstehen ist. Im Miteinander beispielhafter Werke der Bildhauerin aus unterschiedlichen Schaffensphasen werden vielschichtige Zusammenhänge zwischen gefundenen und erdachten räumlich geometrischen Strukturen und deren Kern oder Initialform offenbart – sei es ein einfacher Feldstein oder ein nach Proportion und Möglichkeiten genauestens ausgelotetes räumliches Modul. Mit jedem einzelnen Werk, mit jeder nach allen Seiten konsequent gestalteten Matrix, erschließt sich eine neue Struktur als so systematische wie freie, gliedernde Verbindung, die sich Stück um Stück öffnet : Im Eklogit als sorgfältig geschliffenes und fein glänzendes Fenster, das unvorstellbare Zeiträume reflektiert, in denen sich Materie formt und verdichtet - oder als Matrix, die additiv wächst und sich als Reihung von variantenreichen, geometrisch linearen Verläufen in jedwedem Raum und in multiplen Werkstoffen neu entfaltet und fortentwickelt.

Mit jedem Werkstück, ob einzeln oder zusammengesetzt, bahnen sich individuelle Ideen ihren Weg über die Fläche in den Raum. Sie teilen und verbinden sich, umschließen und markieren ein kontinuierlich wachsendes Gefüge aus einfachsten Grundformen in immer neuen Zusammenhängen. Was im Einzelnen bis ins Detail erdacht und kalkuliert sein mag, kann sich im freien assoziativen Spiel des Aneinandersetzens zu ungeahntem Neuen entwickeln und von der strengen Geometrie und Einfachheit zu sinnlich subjektiven Formfindungen führen, denen nicht zuletzt auch leuchtende Farben, insbesondere ein wiederkehrendes kräftiges Rot, Strahlkraft und Signalwirkung verleihen – während das einzigartige und nuancierte Farbspiel der Eklogite erst im Innern entdeckt und freigelegt wird.

Ob im Dialog mit der Natur, mit Gefundenem und darin Gesehenem oder aus freien Stücken erschaffen: Einmal in der Welt, nimmt die Form ihren Lauf, um ihren eigenen Weg zu finden. Mit einem bestimmten Gewicht und Volumen sowie einer materialspezifischen Fläche, Linie oder Kante weist sie zur nächsten und beschreibt ein so einfaches wie komplexes Koordinatensystem aus Horizontale, Vertikale und Kreis mit einem Vielfachen an bewegten Zwischenräumen und Perspektiven. Sie führt weit weg und bleibt doch ganz bei sich: Ein Wechselspiel aus Ordnung und "UmOrdnung", aus Regelwerk und freiem Rhythmus. Jede Form entpuppt sich bei genauer Analyse als Spielfeld analytischen Denkens und gibt Denkanstöße im spielerischen Tun. Einmal vom Ursprung gelöst, können die Feldsteinfragmente passgenau zurückgeführt werden, während die streng geometrischen Module mit spielerischer Neugierde immer neu zusammengesetzt, gestapelt, geschichtet, verdichtet oder vereinzelt und getrennt in ihrer Vielzahl an Möglichkeiten erkundet werden.

Ob aus dem tiefsten Erdinnern über Jahrtausende an die Oberfläche transportiert und mit einer harten, nahezu undurchdringlichen Kruste versehen, ob aus Beton gegossen, akkurat mit dem Laser geschnitten oder im 3D-Druck hergestellt, ob naturbelassen, materialansichtig, mit Farbpigmenten versetzt oder transparent, ob aus festem oder weichem Ausgangsstoff, glatt oder strukturiert, starr oder flexibel, im kleinen oder im großen Maßstab: Mit jedem Stein, mit jedem neuen Modul, jeder Matrix – ob flächig oder räumlich - entsteht eine neue Ordnung aus Einheit und Vielheit, die sich spielerisch mit Händen greifen und als Denkmuster in jedwede Richtung fortführen lässt.

Quadrat und Viertelkreis als Ausgangsformen haben seit einigen Jahren den Feldstein als schöpferischen Impulsgeber abgelöst. Seit 2006 bilden sie die Basis der seither konzipierten Werkreihen. Die beiden geometrischen Grundformen zeigen sich als so reduzierte wie umfängliche Zeichen, die als Umrisse oder Binnenstrukturen, architektonische oder ornamentale Chiffren, als übereinander und hintereinander geschichtete, als statische oder bewegte Formationen, den Dialog von Innen und Außen, Begrenzen und Entgrenzen, bis in die feinsten Zwischenräume und Fugen vertiefen. Positiv und Negativ, Raum und Zwischenraum, sind zwei Pole einer Form, die sich im gegenläufigen oder parallelen Miteinander behaupten und einzeln sowie im Verbund wahrgenommen werden wollen.

Gleichsam als Zuspiel und Reminiszenz an kindliches Erfahren von Proportion, Tektonik, Konstruktion und Dekonstruktion, von Gestalt und Gestaltung entwirft Susanne Specht auch kleinste Module, die spielerisch den Weg zu immer neuen Ordnungen und damit verbundenen Erkenntnissen weisen. Hält im Großen Stand, was im Kleinen funktioniert? Verändert Materialität und Eigengewicht die erdachte Form? Wie weit lassen sich Proportionen in Richtung Fläche, Linie oder Raum verschieben? Wie verändern Farbe oder Oberfläche die gefundene Form? Wann ist oder scheint etwas leicht oder schwer, feingliedrig oder kompakt, welche Proportionen betonen Modellhaftes, wann steht eine Form als autonome Größe für sich? Fragen über Fragen, die in immer neuen Versuchsanordnungen und Reihen untersucht werden wollen, in immer neuen An- und Umordnungen erdacht, gesehen und erprobt werden, um am Ende zu Neuem und Unerwartetem zu führen: Als neu geschaffenes Werk und inspirierender Nukleus im unendlichen Kosmos an Möglichkeiten, die diese reduzierten dreidimensionalen Formfindungen eröffnen – von der Künstlerin mit leichter Hand und "formendlos" in freien Rhythmen und logischen Reihen aneinandergefügt.

Jede neu gefundene Ordnung lässt eine Ausgangsform wachsen und befreit sie aus der Starre ihres Urzustandes. In der freien Natur platziert, werden die aus strengen Quadraten und Viertelkreisen zusammengesetzten lichten Module zu luftigen Versatzstücken, die sich verzahnen, mit ihrem Eigengewicht in fragiler Balance halten und wie zufällig um ihre linearen, offenen Sockel ranken oder sich zu nie gesehenen, losen Verbindungen an den Wänden ausbreiten oder verdichten. Gleichsam modellhaft verweisen sie auf organisches Wachstum und modulare Architekturen, auf fremde Kulturen oder skripturale Zeichen, die die Gedanken auf Reisen schicken, um das Gesehene mit Erinnertem zu verbinden.

Insbesondere in den jüngsten Arbeiten spielen Bewegung und Licht eine aktive Rolle. Sie interagieren in wechselnden Rollen, die ihnen der umgebende Raum und der Betrachter verleihen. Nahezu schwerelos und ohne einen sichtbaren Halt schweben sogenannte "Orimente" in parallelen Bewegungsmustern im Raum. Ihr graphisches Linienspiel gleicht einem Ornament, das sich von seinem einstigen Bezugssystem gelöst hat. In luftiger Höhe gleichsam transzendiert, irritieren bewusst an Ort und Stelle belassene Reste einer Schutzfolie. Sie führen geradewegs zurück vom kulturhistorischen Formenvokabular des Orients in die hier wie dort reale Gegenwart und den vorherrschenden Alltag. Die aufgedruckten Informationen verweisen auf die industrielle Herkunft des Materials, das sich auch in den gläsernen Schichten der aus den Innenflächen entstandenen Stapel-Architekturen spiegelt. Als kompakte und lichtdurchflutete sowie nicht zuletzt modellhafte skulpturale Räume erden sie im dialogischen Verbund ihre himmelwärts strebenden linearen Partner. Wie gebaute Inseln verorten und komprimieren sie den Raum, der sich an anderer Stelle im leisen Lichtspiel als transparente Überlagerung bewegt. Was aus der Vogelperspektive als geschlossene oder reflektierende Fläche erscheint, gibt sich in der Seitenansicht als streng lineare Struktur, deren Volumen in die Fläche zurückführt und an lange zuvor entstandene Zeichnungen der Bildhauerin erinnern, die den Zusammenhang von Bewegung und Formverläufen, Denken und Handeln, auf ihre Weise untersuchten und mit graphischen Möglichkeiten dokumentierten.

Über viele Jahre standen Eklogite im Mittelpunkt des Schaffens und der damit verbundenen Erkenntnisprozesse. Gleichsam seismographisch reagierte Susanne Specht in diesem Material auf äußere Merkmale, die sie als Spur in das Innere des Steins ausmachte und der sie mit größtmöglicher Zurückhaltung und Sensibilität folgte. Mit minimalen Eingriffen wurde ein ausgewählter Feldstein partiell geöffnet, die ihm innewohnende Struktur herausgearbeitet, um sie mit der äußeren Form auf das engste zu verbinden und gegebenenfalls Stück um Stück wieder zu verschließen, um dem Betrachter sehend und fühlend größtmögliche Handlungsspielräume zu überlassen. Ob offen oder geschlossen: Im Dialog von Innen und Außen, von naturbelassener und gestalteter Form und Proportion: immer findet sich ein kraftvolles Spannungsgefüge aus Nähe und Ferne, Raum und Zeit, Architektur und Natur, das sich mit Händen greifen, gestalten, verlagern, schichten und damit immer wieder neu ordnen lässt. Die Eklogite zeigen sich als körperhaftes Gegenüber, das sich in Nahsicht als Mikrokosmos und gewachsene Einheit erfahren lässt. Der künstlerische Eingriff führt von außen nach innen und zurück, um das gefundene Zusammenspiel als umfassenden Erfahrungsraum vor Augen zu führen.

Aus diesem prozesshaften Gestalten mit der Natur und dem späteren minimalen Bearbeiten von vorgefertigten Relikten industrieller Nutzung entwickelte Susanne Specht über Jahre ein ebenso reduziertes wie umfassendes Vokabular aus frei gestaltbaren Materialien. Jedes Werk findet damit seine individuelle Tonlage auf der Grundmelodie eines umfangreichen, seit über drei Jahrzehnten kontinuierlich wachsenden Oeuvres. Ob aus gefundenen Einzelteilen, die übergroß und nur wenig modifiziert, mit sparsamsten Eingriffen in ihrer Fragilität gestärkt und in eine neue Zwischenwelt, zu "Intermundien" aus Raum und Klang überführt wurden, oder als "Innenklänge" im seriellen Rhythmus ein neues Eigenleben entwickeln, das zielgerichtet zugespitzt, mit offenen und geschlossenen Partien, nach einem unsichtbaren Plan im Mit- und Nebeneinander nur temporär und ortsbezogen geordnet wurde - immer öffnen die von der Bildhauerin entwickelten vielteiligen Skulpturen unterschiedlichste Lesarten auf ihre Entstehung und die von der äußeren Erscheinung bis in das tiefste Innere konservierte Geschichte. Mit minimalen, klugen Eingriffen, erweckt sie die Künstlerin zu neuem Leben. Auch in unscheinbaren wiederkehrenden Resten industrieller Produktion kann sich ein "Paradies" finden lassen, schlicht, indem man ovale Granitausschnitte zu einem dichten Turm schichtet, in dessen stumpf abgesetzter Sockelzone sich eine türähnliche Vertiefung öffnet und auf der gegenüberliegenden Seite eine körperhafte Linie den starren Rapport glänzender Kanten durchfurcht und mit feinem Schwung belebt. Ob durch ein Tor oder entlang eines Weges, himmelwärts führt dieses "Paradies". Doch weist jeder Turm – insbesondere im umlaufenden Rund oder Oval - immer auch in die Weite, gleich aus welchem Material er gebaut oder entstanden ist. Wie kaum ein anderes Sinnbild steht dieses architektonische wie literarische Motiv für Konstruktion und Dekonstruktion und allen damit zusammenhängenden philosophischen Gedanken – für Susanne Specht ein paradiesischer Zustand, der jederzeit und fast überall aufgebaut werden und bleiben kann.

Bis heute sind die bildhauerischen Prinzipien des Schichtens, Stapelns und additiven Aneinanderreihens Ausgangspunkt und Movens immer neuer Werkgruppen. Mögen die Materialien auch noch so verschieden sein, seit der ersten Matrix folgen sie den einmal gefundenen Formen und führen zu immer neuen Entscheidungen im Einklang mit dem – je nach Maßstab - auch partizipatorischen Spiel aus Zufall und Gestaltung.

Allein die Form, sei sie zugefallen oder erdacht, ist Ausgangspunkt und Anstoß zu immer neu gefundenen und erfundenen Strukturen. Die Botschaft liegt im stets offenen System, das sich jetzt mit materialimmanenten Möglichkeiten weiterentwickelt und mit der Einbindung der Ur-Matrix Kontinuität wahrt. Jede neue Ordnung bringt eine bereits vorhandene zu Fall. Eine feinsinnige, stimmige Umordnung jedoch lässt die Summe aller Teile in immer neuem Licht erscheinen und verliert nie die Potenziale eines einzelnen Teils für das gesamte Erscheinungsbild und dessen Folgen aus dem Blick.

Mit jeder Transformation, mit jeder Handlung entsteht Neues. Als Pars pro toto weist das einzelne Modul mit allen Facetten in immer neue Dimensionen und Potenzen. Diese immer neu zu beleuchten, von allen Seiten zu erfassen, weiter zu entwickeln und an immer anderen Orten als so stringentes wie komplexes Werk aus Logik verbunden mit der größtmöglichen Freiheit zu generieren, bedarf nie endender "UmOrdnungen".

Birgit Möckel